Irina Liebmann

Die Große Hamburger Straße

Roman

Erstausgabe 2020

(Schöffling & Co., 2020)

Textprobe:

Es gibt in jeder Stadt eine Straße, die man von Anfang bis Ende überschauen kann. Hineinsehen wie in einen Trichter sogar, denn die gleichmäßig hohen Häuserreihen verengen sich zu ihrem Ende hin, wo eine andere Straße sie abschneidet. Es ist immer unerwartet, im Vorbeifahren meistens, dass der Blick aus dem Fenster einer Straßenbahn oder eines Autos in solch eine Straße fällt und für eine Sekunde in den Sog von etwas gerät, das zu rufen scheint: „Hier!“, „Hier geht‘s doch lang!“ – aber schon ist der Betrachter weitergefahren, und gleich ist er vergessen, der Winkel, die schräg aufeinander zu laufenden Häuserreihen, und das Ziel in der Mitte, das Ende.
Es gibt hier ein Ende
Ist es das, was die Erinnerung noch beschäftigt wenn man längst vorbei ist an solch einer kurzen Straße, die vollkommen überschaubar ist?
Wer zu Fuß unterwegs ist, der spürt den Sog noch deutlicher, in diese kurze Straße einzubiegen, von der er noch vor Minuten nichts wusste, wenn er ein Fremder ist.

Warum beschäftigt mich das, Anfang und Ende?

Die Dinge müssen zu einem Ende kommen. Ruhig und wie solche Häuserreihen. Sie stehen sich gegenüber, aber je weiter am Ende der Straße sie sich befinden, umso näher rücken sie aneinander heran, bis eine Querstraße es ihnen nicht erlaubt, ihren Lauf fortzusetzen, sondern abschließt für immer.

Die Große Hamburger Straße
 
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